Heinrich Seidel: Neues Glockenspiel

I. VERMISCHTE GEDICHTE.


DIE MUSIK DER ARMEN LEUTE

Der Herr Musikprofessor spricht:
»Die Drehorgeln, die dulde man nicht!
Sie sind eine Plage und ein Skandal!«
Mein lieber Professor, nun hören sie mal:

Ein enger Hof – kein Sonnenschein
Fällt dort das ganze Jahr hinein.
Da herrscht ein seltsam muffiger Duft,
Nach Armuth riecht's und Kellerluft,
Da blüht keine Blume, da grünt kein Laub,
Die Kinder spielen in Müll und Staub.
Nun kommt ein Leiermann hervor
Und schleppt seinen Kasten durchs offene Tor.
Den Schunkelwalzer spielt er auf,
Da rennt es herbei in schnellem Lauf,
Da krabbeln aus ihren Höhlen heraus
Die Kinder in dem ganzen Haus,
Und über die blassen, ernsten Gesichter
Fliegt es dahin wie Sonnenlichter;
Sie tanzen und wiegen sich hin und her
Bei'm Schunkelwalzer – was will man mehr?
In der Kellerthür steht ein schlumpiges Weib,
Ihr hängen die Kleider um den Leib,
Den Säugling hält sie in dem Arm,
In ein Wollentuch gewickelt warm.
Sie lässt ihn tanzen, und wie er sich regt
Und mit den magern Aermchen schlägt,
Ist über die vergrämten Wangen
Ein Strahl von Mutterfreude gegangen.
Das Mädchen für Alles im ersten Stock,
Es fasst mit den Fingerspitzen den Rock
Und trällert den Text und dreht sich und lacht:
An den blauen Dragoner hat sie gedacht;
Des Sonntags nach vollbrachtem Werk
Im „Schwarzen Adler“ zu Schöneberg – –
Er war so unbeschreiblich flott
Und tanzte den Walzer wie ein Gott.

Der Leiermann hat die Blicke erhoben
Und wartet auf den Segen von oben.
Dann kommt – das hört ein Jeder gern:
»Einst spielt' ich mit Scepter, mit Krone und Stern.«
Der arme Schreiber in seiner Kammer
Vergisst eine Weile den täglichen Jammer.
Er lässt die kritzelnde Feder stehn
Und seinen Blick zu den Wolken gehn,
Die über die Dächer dahin gezogen.
So hoch sind einst seine Träume geflogen
Von Ruhm und Glück und Sonnenschein:
»O selig, o selig, ein Kind noch zu sein!«

Der Leiermann dreht seine Kurbel um,
Seine Blicke wandern rings herum.
Ein anderes Stück nun stellt er ein:
»Ich bitt' euch, lieben Vögelein!«
Die Nähterin lässt die Maschine stehn,
Und ihre Traumgedanken gehn
Zum letzten Roman, den sie gelesen.
Wie edel ist doch der Graf gewesen,
Dass er das arme Mädchen nahm,
Obgleich es doch fast zur Enterbung kam.
Dann seufzt sie. Ach, sie weiss, wie es geht;
Die edlen Grafen sind dünn gesät!
Doch wenn auch kein Graf, wenn nur einer käme,
Den sie möchte, und der sie nähme!
Draussen schiessen die Schwalben vorbei,
Sie blickt ihnen nach und summt dabei:
»Ich bitt' euch lieben Vögelein,
Will keins von euch mein Bote sein?«

Der Leiermann aber schaut sich stumm
Von einem Fenster zum andern um,
Zieht sein Register und spielt mit Schall:
»Es braust ein Ruf wie Donnerhall!«
In seiner Werkstatt der Schuster nun
Lässt eine Weile den Hammer ruhn.
Er war bei Wörth und bei Sedan
Und vor Paris und Orleans,
Und wie er denkt an jene Zeit,
Wird sein Soldatenherz ihm weit!
Er klappt mit kampfgewohnter Hand –
Mit Gott für König und Vaterland –
Gar mächtig auf das Leder ein:
»Lieb Vaterland, magst ruhig sein!«

Der Leiermann aber blickt und späht,
Damit sein Lohn ihn nicht entgeht.
Und sieh, der Segen bleibt nicht fern,
Denn Armuth giebt der Armuth gern.
Bald hier, bald dort mit leisem Klapp,
In Papier gewickelt, fällt es herab.
Und ob auch der Herr Professor schreit –
Hier fühlt man nichts als Dankbarkeit,
Denn ein wenig Licht in's graue Heute
Bringt die Musik der armen Leute.

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