Heinrich Seidel: Neues Glockenspiel

V. EPIGRAMME UND HUMORISTISCHES.


MODERNE BAUKUNST

Gab's je 'ne Kunst, die so ins Weite schweifte,
Aus allen Ländern ihre Formen schleifte,
Die, stets den Blick auf fremde Zeit gerichtet,
Den Schnörkelkram der Welten aufgeschichtet?
Gab's je 'ne Kunst, so treibhausmässig hektisch,
So voller Hast, verworren und eklektisch?
Ich glaub es kaum, allein, es ist mal so,
Es wird die Welt des bunten Tandes froh.
Wir können alles heut, es ward uns kund,
Wie man gebaut im weiten Erdenrund
Zu allen Zeiten und in jedem Stile,
Am Euphrat, Ganges, Tiber oder Nile,
Ob Indisch, Griechisch, Gothisch und Romanisch,
Ob Renaissance, Chinesisch und Japanisch,
Ob Byzantinisch, Maurisch und Barocko,
Und was die neuste Mode ist, Rokoko,
Wir können alles gleich mit einem male,
Nur eines nicht, das wirklich Nationale.

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