Heinrich Seidel: Glockenspiel

I. BILDER UND IDYLLEN


SOMMERABEND - SOMMERNACHT

4. VOR DER HAUSTHÜR

Sommerabend – süsse Labung,
Wenn der heisse Tag verglühte!
Stille Gärten blühn im Mondschein,
Athmen Kühlung, hauchen Düfte,
Froh befreit vom Sonnenbrand.
Unter Linden – welch' ein Flüstern,
Heimlich Wispern und Gekose –
Aus den Lauben glänzen Lichter –
Grün durchleuchten sie das Blattwerk –
In die süsse Abendstille
Tönt Gelächter und Gesang.
Friedlich sitzt der brave Bürgcr
Wohlbehäbig auf der Hausbank,
Raucht sein Pfeifchen – spricht verständig
Noch ein Wörtchen mit dem Nachbar –
Mutter strickt und nickt dazu.
Doch der schönen blonden Tochter
Drückt der blonde Sohn des Nachbars
Heimlich, heimlich und verstohlen,
Still die kleine weisse Hand.
Und sie sprechen sehr verständig,
Bald von diesem, bald von jenem,
Nur von dem nicht, was mit Beben
Durch die jungen Herzen geht.
Doch dem jüngsten Sohn des Hauses
Giebt ein Gott es zu verkünden
In der fremden todten Sprache,
Die zur Marter unsrer Kindheit
Einst der alte Römer sprach.
Denn gekehrt zum Mond das Lehrbuch
Lernt und lernt er laut und eifrig,
Lernt er: »amo, amas, amat!«


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