Heinrich Seidel: Glockenspiel

IV. Mären, Geschichten und Schwänke


DER EIERSEGEN

Im Sommer war's, vor langer Zeit,
Da trat mit weissbestaubtem Kleid
Ein Wanderbursche müd genug
Einst zu Semlin in einen Krug.
Doch Niemand war in dieser Schenke,
Zu reichen Speisen und Getränke –
Nur Fliegen, die vom Tisch aufsummten,
Und Brummer, die am Fenster brummten.
Die Sonne kam hereingeflossen
Und malte still die Fenstersprossen
Hin auf den sandbestreuten Grund.
Es regte sich kein Mensch, kein Hund;
Es waren ganz für sich allein
Die Fliegen und der Sonnenschein.
Der Wanderer auf die Bank sich streckte,
Und seine müden Glieder reckte,
Und dacht': »Die Ruhe soll mir frommen!
Am Ende wird schon Jemand kommen!«
Und als er nun so um sich sah,
Fand er ein Häufchen Krumen da,
Das man vom Tisch zusammenfegte,
Und, da der Hunger sehr sich regte,
Begann er eifrig unterdessen
Von diesen Krümlein Brods zu essen.

Dem guten Burschen war nicht kund,
Dass sich auf Hexerei verstundt
Des Krügers Frau. Sie wollte eben
Die Krümchen Ihren Hühnern geben,
Und da Sie abgerufen ward,
Sprach sie darob nach Hexenart,
Bevor sie ging, den Eiersegen,
Wonach die Hühner mächtig legen. –
Und als der Bursche also nippte
Und mit den Fingern Krumen tippte,
Da ward ihm gar so wunderlich
Im Leibe, so absunderlich.
Bis dass auf einmal wundersam
Der Zauberspruch zur Wirkung kam.
Er fühlte sich, als wie besessen.
Und so viel Krumen er gegessen,
So viele Eier musst' er legen!
Das wirkte dieser Hexensegen!
Er mochte wollen oder nicht,
Das war das Ende der Geschicht:
Er legte einunddreissig Eier,
Und darnach fühlte er sich freier.
Dann ward ihm so mirakelig,
So kikelig, so kakelig.
Und ehe er sich recht besann,
Da fängt er auch das Kakeln an!
Er konnte diesen Trieb nicht zügeln,
Schlug mit dem Armen wie mit Flügeln,
Ging um die Eier in die Runde
Und scharrte kräftig auf dem Grunde
Und kakelte so furchtbarlich,
Das Alles rings entsatzte sich:
Zusammen lief Weib, Kind und Mann
Und schauten das Mirakel an,
Doch endlich liess der Zauber nach;
Dem armen Burschen war ganz schwach.
Er fühlte ganz elendiglich
Sich aussen und inwendiglich,
Und musste stärken sein Gebein
Mit Käse, Brot und Branntewein!
Liess sich den Stock herüberlangen
Und ist beschämt davon gegangen.

Nach langer Zeit, in späten Jahren,
Hab' ich's aus seinem Mund erfahren,
Da hat er oftmals mir erzählt,
Wie ihn das Hühnerbrod gequält,
Und wie das Ding sich zugetragen.
Zum Schlusse pflegte er zu sagen:
»Das Legen, das ist leicht gethan!
Das Kakeln aber, das greift an!«

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