Karl von Gerok

Wie Kaiser Karl Schulvisitation hielt

Als Kaiser Karl zur Schule kam und wollte visitieren,
da prüft er scharf das kleine Volk, ihr Schreiben, Buchstabieren,
ihr Vaterunser, Einmaleins und was man lernte mehr;
zum Schlusse rief die Majestät die Schüler um sich her.
Gleichwie der Hirte schied er da die Böcke von den Schafen;
zu seiner Rechten hieß er stehn die Fleißgen und die Braven.
Da stand im groben Linnenkeid manch schlichtes Bürgerkind,
manch Söhnlein eines armen Knechts von Kaisers Hofgesind.
Dann rief er mit gestrengem Blick die Faulen her, die Böcke,
und wies sie mit erhobner Hand zur Linken in die Ecke.
Da stand in pelzverbrämtem Rock manch feiner Herrensohn,
manch ungezognes Mutterkind, manch junger Reichsbaron.
Da sprach nach rechts der Kaiser mild: »Habt Dank, ihr frommen Knaben!
Ihr sollt an mir den gnädgen Herrn, den gütgen Vater haben;
und ob ihr armer Leute Kind und Knechtesöhne seid -
in meinem Reiche gilt der Mann und nicht des Mannes Kleid.«
Dann blitzt sein Blick zur Linken hin, wie Donner klang sein Tadel:
»Ihr Taugenichtse, bessert euch! Ihr schändet euern Adel.
Ihr seidnen Püppchen, trotzet nicht auf euer Milchgesicht!
Ich frage nach des Manns Verdienst, nach seinem Namen nicht.«
Da sah man manches Kinderaug ihn frohem Glanze leuchten
und manches stumm zu Boden sehn und manches still sich feuchten.
Und als man aus der Schule kam, da wurde viel erzählt,
wenn heute Karl Kaiser Karl gelobet und wen er ausgeschmält.
Und wie's der große Kaiser hielt, so soll man's allzeit halten,
im Schulhaus mit dem kleinen Volk, im Staate mit den Alten:
den Platz nach Kunst und nicht nach Gunst, dem Stand nach dem Verstand!
So steht es in der Schule wohl und gut im Vaterland.

aus "Wolfs Poetischer Hausschatz des Deutschen Volkes",
Völlig erneuert durch Dr. Heinrich Fränkel. 31. Aufl.,
Erweitere Ausgabe, Otto Wigand, Leipzig o. J., S. 447

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