August Ferdinand Bernhardi

Der Löwe in Florenz

»Der Löw' ist los! Der Löw' ist frei!
Die ehernen Bande riß er entzwei! –
Zurück, daß ihr den vergeblichen Mut
Nicht schrecklich büßet im eigenen Blut!«

Und jeder suchet mit scheuer Eil'
In des Hauses Innern Schutz und Heil;
Auf Markt und Straßen rund umher
Ward's plötzlich still und menschenleer.

Ein Kindlein nur, sein unbewußt,
Verloren in des Spieles Lust,
Fern von der sorglichen Mutter Hand,
Saß auf dem Markt am Brunnenrand.

Wohl viele sahen von oben herab
Sie schauten geöffnet des Kindleins Grab;
Sie rangen die Hände und weinten sehr
Und blickten zagend nach Hilf' umher.

Doch keiner wagt das eigene Leben
Um des fremden willen dahinzugeben;
Denn schon verkündet ein nahes Gebrüll
Das Verderben, das jegliches meiden will.

Und schon mit rollender Augen Glut
Erlechzt der Löwe des Kindleins Blut,
Ja, schon erhebt er die grimmige Klau'n
O qualvoll, herzzerreißend zu schau'n!

So rettet nichts das zarte Leben,
Dem gräßlichsten Tode dahingegeben?
Da plötzlich stürzt aus einem Haus
Mit fliegenden Haaren ein Weib heraus.

»Um Gottes Willen, o Weib, halt ein!
Willst du dich selbst dem Verderben weih'n?
Unglückliche Mutter, zurück den Schritt!
Du kannst nicht retten, du stirbst nur mit!«

Doch furchtlos fällt sie den Löwen an,
Und aus dem Rachen mit scharfem Zahn
Nimmt sie – das unversehrte Kind –
In ihren rettenden Arm geschwind.

Der Löwe stutzet, und unverweilt
Mit dem Kinde die Mutter von dannen eilt.
Da erkannte gerührt so jung wie alt
Des Mutterherzens Allgewalt

Und des Leuen großmütigen Sinn zugleich;
Doch manche Mutter von Schrecken bleich
Sprach still: »Um des eigenen Kindes Leben
Hätt' ich auch meines dahingegeben.«

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