Josef Viktor von Scheffel

Eine traurige Geschichte

Ein Hering liebt' eine Auster
Im kühlen Meeresgrund;
Es war sein Dichten und Trachten
Ein Kuß von ihren Mund.

Die Auster, die war spröde,
Sie blieb in ihrem Haus;
Ob der Hering sang und seufzte,
Sie schaute nicht heraus.

Nur eines Tags erschloß sie
Ihr duftig Schalenpaar;
Sie wollte im Meeresspiegel
Beschauen ihr Antlitz klar.

Schnell kam der Hering geschwommen,
Streckt seinen Kopf herein
Und dacht' an einem Kuße
In Ehren sich zu freun!

O Harung, armer Harung,
Wie schwer bist du blamiert! –
Sie schloß in Wut die Schalen,
Da war er guillotiniert.

Jetzt schwamm sein toter Leichnam
Wehmütig im grünen Meer
Und dachte: »In meinem Leben
Lieb' ich keine Auster mehr!«

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